An der Wende zweier Epochen - Victor Chernov

Die Gesellschaft: Internationale Revue für Sozialismus und Politik
titlepage by Karl-Tobias Schwab in honor of Kautsky's 70th birthday

Von Viktor Tschernow. Executive representative for the Socialist-Revolutionary Party to the Labour and Socialist International.

Submitted by Noa Rodman on May 11, 2012

Die Schaffung sozialistischer Organisation ist kein so einfacher Prozeß, wie wir in früheren Zeiten annahmen, als das Problem uns noch nicht so greifbar nahe gerückt war. Wie diese Organisation aussehen und wie sie herbeigeführt werden soll, das ist die Frage, die die Theoretiker und euch die weitersehenden Praktiker des Sozialismus jetzt am meisten beschäftigt ... Es ist die höchste Zeit für alle führenden Geister des Sozialismus, sich mit aller Macht diesem Gegenstand zuzuwenden. Der erste Rang wird dabei denjenigen zufallen, deren organisatorische Begabung eine hervorragende ist, oder, richtiger gesagt, jenen, die mit solcher Begabung auch großen theoretischen Sinn und theoretisches Wissen verbinden1 .

Diese Worte von Karl Kautsky in seinem Buche: „Die proletarische Revolution und deren Programm" bedeuten die klare Erkenntnis der näheren Perspektiven der Gedankenrichtung in den Kreisen der Sozialisten. Wir wollen hier nicht untersuchen, ob das von Kautsky Gesagte nicht zu bekräftigen wäre durch den kategorischen Satz, daß das Fehlen dieser Arbeit in der Ver­gangenheit bereits großen Schaden angerichtet hat und daß das sozialistische Denken damit gewissermaßen in Verzug ist. Die Ereignisse müssen die sozialistischen Parteien unvermeidlich überrumpeln, wenn diese die für den Sozialismus bestehende praktische Notwendigkeit unterschätzen, im Augenblicke ihrer bestimmenden Einwirkung auf den Gang der Ereignisse etwas wie einen „Operationsplan" für die Umgestaltung des bürgerlichen Regimes, seiner Umwandlung von einem individua­listischen in ein sozialistisches, ausgearbeitet zu haben. In solchen Fällen gibt es nur zwei Möglichkeiten: entweder ein hilfloses Tappen auf dem gleichen Fleck oder ein unverantwortliches, zügellos-abenteuerliches Experimentieren. Das erste konnte man zur Genüge auf dem Höhepunkt der deutschen Revolution beobachten, das zweite in noch viel stärkerem Maße seit der russischen Oktoberrevolution.

Wie dem auch sei: Vergangenes ist nicht mehr zu ändern.
Besser spät als niemals. Die Lehre der Ereignisse hat gezeigt, daß es mit den größten Gefahren verbunden ist, an Stelle eines solchen Operationsplanes eine klaffende Lücke zu lassen.

„Heute gehören die Uebergangsmafiregeln zum Sozialismus
ins Programm, denn heute sind wir darüber nicht mehr auf vage Vermutungen angewiesen", sagt Kautsky sehr richtig.

Jedoch kann in das Programm nur aufgenommen werden, was bereits in speziellen Untersuchungen ausgearbeitet, in
Diskussionen geprüft worden ist und was sich bereits im Prozeß der Ideengärung als etwas Feststehendes und in den Reihen der Parteigenossen Anerkanntes niedergeschlagen hat. Die Auf­nahme in das Programm bedeutet eine Bilanzziehung. Für eine Bilanz ist aber immer noch keine genügende Zahl von Sum­manden vorhanden.

Karl Kautsky hat ungeachtet seines hohen Alters auch zur
Ausarbeitung dieser neuen Probleme bereits seinen Beitrag ge­leistet, — zwar einen kleineren als er selbst beabsichtigte, jedoch immerhin einen größeren als viele seiner nörgelnden Kritiker. Mit einer wahrhaft entwaffnenden Bescheidenheit tritt hier Karl Kautsky zurück und überläßt das Feld und die Ehre jenen neuen Leuten, die durch das Auftauchen dieser neuen, bisher im Schatten befindlichen Probleme von der Geschichte berufen werden. Er selbst, der den größten Teil seines Lebensweges bereits zurückgelegt hat, wartet, sieht die Zukunft voraus und beschenkt mit seinem Geleitwort die neue Generation, in welcher er eine glücklichere Komposition von gründlicher theoretischer Vorbereitung und schaffend-kombinierenden, konstruktiv-organi­satorischen Kräften zu finden hofft. Er schreibt: „Unter uns allen ist jene Verbindung selten — ich muß für mich persönlich gestehen, daß mir jegliche organisatorische Begabung fehlt."

Es ist aber klar, daß es sich gar nicht um geringere Begabung der vorangegangenen Generation sozialistischer Kämpfer handelt; welchen Grund haben wir, zu hoffen, daß die an unsere Stelle tretende Generation mit verschiedenartigeren Talenten be­schenkt sein wird? Nicht die angeborenen Talente sind hier entscheidend: — sie sind vermutlich gleichmäßig unter die ein­ ander ablösenden Generationen verteilt; — einzelne Genies, „die nicht gebildet, sondern geboren werden", rechnen nicht; das sind nicht seltene Glücksfälle, die der Menschheit in großen
Zwischenräumen, gleich großen Feiertagen in der langen Reihe
der Arbeitstage ihrer Werktagsexistenz zuteil werden. Ent­
scheidend ist der Inbegriff historischer Bedingungen einer
Epoche, welche von den Menschen bestimmte Eigenschaften
fordert, andere ablehnt. Ganze Generationen und sogar eine
Reihe von Generationen können derart gleiche Richtung des
Geistes- und Empfindungslebens — dem Geist der Zeit entsprechend — aufweisen, daß andere Seiten ihres Intellekts in­folge Nichtgebrauchs sich nicht entwickeln, einschlafen und sogar atrophiert werden.

Es gab Zeiten, in welchen der Sozialismus in erster Linie
und vorwiegend gerade die organisatorisch-kombinatorischen,
architektonisch-konstruktiven Eigenschaften zur Entwicklung
brachte. In der schaffenden Synthese erschöpfte sich seine
ganze geistige Tätigkeit, da die andere von Kautsky betonte
Seite — die theoretische Vorbereitung, die gründliche, objektive Untersuchung der Wirklichkeit — noch im Embryozustand war. Ohne die Stütze einer exakten methodischen Wissenschaft mußte sich das positiv schaffende Genie unvermeidlich in Wolkenregionen, subjektiven Träumereien und Phantastereien verlieren. Das Genie hat sich bewüßt abgewandt von der Erde, von der werktätigen bürgerlichen Realität, um etwas dieser gerade Entgegengesetztes zu schaffen: „proceder par le grand
ecart" — wie sich Fourier ausdrückte —, dabei aber durch die
Kraft seines Schwunges den Boden jeder Realität unter den
Füßen und den Rückweg vom Himmel zur Erde herab verlor.
Dieses Schicksal ereilte ganze Generationen großer Utopisten.

Gerade zu jener Zeit hat infolge des Gesetzes der psychologischen Reaktion eine ganze Reihe anderer Generationen in der Erkenntnis der Unreife ihrer Zeit hierfür auf kühne Exkursionen in das Bereich einer nebelhaft ideellen Zukunft ver­zichtet und sich auf die genaue und gründliche Untersuchung des Gegebenen, auf die Erforschung der in ihr wirkenden Kräfte und Tendenzen, auf die Feststellung deren vermutlicher Re­sultate konzentriert. Utopien, Bilder einer idealen Zukunft wurden verworfen; nicht nur die Details, die nicht wesentlich sind, und in denen ein freies Spiel der Phantasie ohne Belang bleibt, da sie zwar zur Lebendigkeit der konkreten Vor­stellung beitragen, jedoch das Verständnis für die Struktur der neuen Gesellschaft nicht vermitteln; sondern sogar die
grundlegenden, organisch-konstituierenden Probleme der so­
zialistischen Gesellschaft sind offen geblieben und zum X, zur unbekannten Größe gestempelt worden, deren Auffindung man ruhig und vorsichtig bis zu einer gründlicheren Untersuchung der bekannten Größen zurückgestellt hat. Marx hat seinerzeit gesagt, daß der ganze philosophische Sinn der Geschichte des Sozialismus sich in wenigen Worten erschöpfen läßt: die Ent­wicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft.
Heute können wir, seinem Geiste treu, hinzufügen: war der
utopistische Sozialismus die These, der wissenschaftliche So­zialismus die Antithese, so stehen wir an der Schwelle der syn­thetischen Epoche, wo der Sozialismus praktisch-konstruktiv werden muß.

Die Utopisten waren ihren bodenlosen subjektiv-konstruktiven
Phantasien ausgeliefert. Ihr Schaffen enthielt zu wenig Elemente der objektiven Wissenschaft. Die sie ablösenden Forscher des wissenschaftlichen Sozialismus waren Erdensöhne, treue Diener — mitunter sogar Sklaven — des Objektivismus. Ihre Forscher­ader, ihre die realen, sozialen Grundlagen sondierende Tätig­keit war nicht geeignet, ihrer Schöpfung die notwendige Ent­faltungsfreiheit zu geben. Die Synthese, die Kautsky von der kommenden Generation erwartet, muß die harmonische Ver­schmelzung folgender drei Elemente ergeben: 1. des auf die höchste Stufe der schöpferischen sozialen Synthese erhobenen
organisatorisch-kombinatorischen Genies, 2. der Methodik und
der wissenschaftlichen Diszipliniertheit des Denkens, das durch die strenge Schule der objektiven Erkenntnis hindurch­
gegangen ist und 3. des positiv realistischen Geistes, der aus­schließlich in der Schule der praktischen Erfahrung, der Tätig­keit in den Reihen der arbeitenden Massen, der Arbeit unter ihnen, für sie und durch sie gewonnen wird.

Vom utopistischen Sozialismus durch den dogmatischen zum
wissenschaftlich-konstruktiven, das ist die endgültige und gelöste Formel, in der für das zeitgenössische sozialistische Bewußtsein der ganze Sinn der Geschichte des Sozialismus als der be­deutendsten Richtung des Gesellschaftsgedankens in der neueren Zeit besteht.

In der Geschichte vollzieht sich der Uebergang von einer
großen Epoche zu einer anderen niemals ohne Zerstörungen.
Jede Zerstörung ist krankhaft. Wie oft geraten „Väter" und
„Söhne" in schwerste Konfliktel Wie häufig sind im Verlauf
dieser Konflikte die Kämpfenden ungerecht gegeneinander! Die
Anhänger des wissenschaftlichen Sozialismus übten seinerzeit
die denkbar strengste Kritik an den Vertretern der sozialen
Utopie. Die Mohikaner des utopistischen Sozialismus ironisierten erregt die „Anmaßungen" der Pseudowissenschaft der „Kastra­ten" des Objektivismus. Die ersten Pioniere des sozialistischen Konstruktivismus waren zeitweise von heftigstem Haß gegen die „Dogmatiker" und die „Orthodoxen" erfüllt; die Verteidiger der „Orthodoxie" warfen zeitweise alle Ketzer mitsamt allen ihren „Neuerungen" über den Haufen, als Abweichungen vom wahren Weg, als „Utopie" oder als „Sündenfall" vom Stand­ punkte des unverfälschten proletarischen Selbstbewußtseins.

Man muß, um über den Kampf der Leidenschaften, über
Erregtheit und gegenseitige Ungerechtigkeiten der streitenden Parteien, über die selbstverständlichen Uebertreibungen und überhaupt das „Menschliche und Allzumenschliche" im Kampf der Ideen, sich erheben zu können, eine Distanz zwischen sich und die sich überstürzenden Ereignisse bringen. Und da zeigt sich dann, daß die einander bekämpfenden Freund-Feinde oft
entweder die blutsverwandten gesetzlich einander Beerbenden
darstellen oder die Mitbesitzer einer und derselben Wahrheit
sind, die sich ihnen aber nicht auf einmal, sondern nur nach
und nach und von verschiedenen Seiten offenbart. Das ist auch die Ursache, warum die dramatischen Peripetien der lebendigen Geschichte sich so leicht vermittels der Antithese in das Hegeische Schema der „dialektischen" Entwicklung kleiden. Der leidenschaftslose Historiker versteht heute mühelos, daß der „utopistische Sozialismus" nicht einfach eine „schäd­liche Verirrung war", die dann auch durch den „wissenschaft­lichen Sozialismus" behoben wurde. Ihm fällt es leicht, jeder
sozialistischen Generation die ihr gebührende Anerkennung zu
zollen. Während der Epoche der schrecklichen Unterjochung
des Geistes unter die bürgerliche Ordnung, die nicht nur einen physischen, sondern auch einen seelischen Sieg feierte, die das menschliche Denken lange gefangen hielt, darf das ungeheure Verdienst der sogenannten Utopisten nicht unterschätzt werden, da sie es waren, die mit ihren kühnen Konstruktionen das Denken aus den Ketten seiner spießbürgerlichen Alltags Wirklichkeit
emanzipierten". Ihre Aufgabe war es doch, zu beweisen, daß die bürgerliche Gesellschaftsordnung nicht ewig, nicht die einzig denkbare, „der Natur der Dinge" entsprechende sei. Diese Aufgabe hat den Utopisten auch ihre grundlegende Methode diktiert: den Beweis zu erbringen, daß die bürgerliche Gesell­schaftsordnung eine „Verunstaltung" der natürlichen Be­dingungen des Gemeinschaftslebens ist; daß aus der „unver­fälschten" Natur der Gesellschaft, wie aus der unverfälschten Natur des individuellen Menschen eine der bürgerlichen Art der
Produktion und Güterverteilung entgegengesetzte, harmonisierte, assoziierte, den bürgerlichen „Gegensätzlichkeiten" fremde resultiert. Daher auch der Versuch a priori, aus der wahren Natur der Menschheit und der Gesellschaft die ganze Ordnung der „neuen Harmonie" herzuleiten. Selbst die äußersten Gewagtheiten und Uebertreibungen des detaillierten utopischen Gemäldes waren keine Launen: sie entsprangen dem Bestreben, den Schemata einer zukünftigen Gesellschaft das Maximum an
anschaulich Ueberzeugendem zu geben, aus dem trockenen abstrakten Begriff die lebendige, plastische Darstellung zu gestalten. Selbstverständlich unterlagen die Utopisten oft einer Täuschung über den bedingten, den „Beispiels"-Charakter dieser Methode; selbstverständlich zogen sie häufig nicht die außerordentlich große Bedeutung in Rechnung, die zum mindesten der Fortschritt der wissenschaftlichen Technik für alle sozialistischen Zukunftsbilder hat, dessen Zickzackweg nicht ab­ zusehen ist, und dessen Wesen in großen historischen Ueberraschungen, wie sie alle neuen Entdeckungen mit sich bringen, besteht; ihre Konstruktionen, ohne diese unerläßlichen Vor­behalte, gewannen absoluteren Charakter als das Leben recht­ fertigte.
Dies war der übliche Fehler der Utopisten; aber noch
fehlerhafter wäre es, nicht verstehen zu wollen, daß die Kon­struktion von Schematen der künftigen Gesellschaft für jene Zeit durchaus nicht ein müßiges „Spiel des Geistes" war, son­dern eine notwendige „Arbeitshypothese". Arbeitshypothesen bleiben in jeder Wissenschaft zunächst unausgeführt, aber ohne sie gibt es keine Vorwärtsbewegung. Ein ebenso sinnloser Geistesirrtum wäre es, wollten wir heute bei voller Berücksichti­gung der Schwächen der sozialistischen Utopien verkennen, daß diese alle einen gesunden Kern bargen. Gerade durch ihre in die Zukunft projizierten Konstruktionen gewannen die Utopisten
als erste einen Gesichtspunkt, der ihnen gestattete, an der herrschenden Gesellschaftsordnung schärfste Kritik zu üben. Vorwärtsbewegung erfolgt nur durch Kritik, die etwas Positives in sich birgt, jede andere Kritik wird zu pessimistischem Gefasel und unfruchtbarer Misanthropie. Die großen Arbeitshypothesen, denen man den Namen „Utopie" gegeben hat, und denen man Unrecht täte, wollte man in ihnen ausschließlich die tadelnde und schmähende Bedeutung sehen; sie warfen vielmehr ein scharfes Licht auf die tiefe Wahrheit des historischen Uebergangscharakters der
bürgerlichen Gesellschaftsordnung und bilden dasjenige
„große Ahnen", welches die Grundlage für jede Bewertung
der geltenden Ordnung abgibt, für das höchste Ge­richt über
sie und die endgültige Verurteilung, die jedoch eine vorangehende allseitige Erforschung dieser Ordnung voraussetzt. Auf diese Weise hat der utopistische
Sozialismus dem wissenschaftlichen den Weg geebnet.

Noch mehr als das. Heute ist es selbstverständlich für niemand ein Geheimnis, daß bei aller Berechtigung der Gegenüberstellung von wissenschaftlichem und utopistischem Sozialis­mus der utopistische Sozialismus bereits wertvolle und bedeutende wissenschaftliche Elemente enthielt, während der wissenschaftliche Sozialismus noch Elemente der Utopie auf­ weist und sie mitunter sogar bekräftigt — insbesonders
Elemente der erkennenden Utopie, die ihren Prognosen zu große absolute Bedeutung beimißt, Prognosen, die weit eher durch Willensmomente des Bewußtseins als durch leidenschafts­lose, rein objektive Logik zustande kamen. Es muß hier noch betont werden, daß das, was im Begriff scharf voneinander getrennt ist, im Leben gewöhnlich durch eine Reihe von Zwischengliedern verbunden wird. So finden wir zwischen den Klassikern der Utopie — Saint-Simon, Fourier, Cabet, Owen — und den Klassikern des wissenschaftlichen Sozialismus — Marx und Engels — eine ganze Phalanx solcher Denker, wie William Thompson, Konstantin Pecqueur, Victor Considerant, Vidal und endlich Louis Blanc, Proudhon und Tschernyschewski, welche die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissen­schaft zu einem kontinuierlichen Prozeß machen, und die man nicht ungestraft vergessen darf; denn dem Vergessen kann die Neuentdeckung folgen, die mitunter den Charakter einer feierliehen Auferstehung annimmt. Man braucht nur an die „Aera Proudhons" zu denken, die in der französischen sozialistischen Bewegung von den Theoretikern des revolutionären Syn­dikalismus plötzlich neu entdeckt wurde, und die ihren geistigen Stempel in mancher Hinsicht auch so großen Sozialisten der Gegenwart wie Jean Jaures aufdrückte.

Der wissenschaftliche Sozialismus hat vom utopischen viel
mehr wertvolle geistige Erbschaft erhalten, als dies im allge­meinen angenommen wird. Er bildete im Vergleich zu jenem eine höhere Stufe der Entwicklung; und zwar nicht nur weil er auf dem Wege der Erforschung des Mechanismus des bürger­lichen Produktionssystems viel weiter fortgeschritten war, son­dern weil er das sozialistische Ideal selbst vom Himmel auf die Erde herabgezogen und dabei das abstrakte Streben des Ge­lehrtenstuben-Intellekts, durch eine geniale Voraussicht, die Nebel der Zukunft zu zerreißen, mit dem konkreten Bestreben der Massen, sich bessere Lebensbedingungen zu erkämpfen, ver­eint hatte. Durch die Berücksichtigung des neuen Faktors: des kollektiven Sensualismus der proletarischen Massen, hat er an dem Intellektualismus, der abstrakten Logik, dem individualistischen Rationalismus der gelehrten Pioniere und Projektoren des Sozialismus die größte wissenschaftliche und zugleich prak­tische Korrektur vorgenommen. Dadurch hat er den Sozialismus einerseits in eine sich folgerichtig und in engem Kontakt mit dem Leben stehende wissenschaftliche Theorie, andererseits in eine real wirkende, erstarkende, durch einen neuen großen und starken organisatorischen Aufbau an Umfang zunehmende
Arbeitsdemokratie verwandelt.

Groß sind die Errungenschaften und die Verdienste des
wissenschaftlichen Sozialismus. Aber auch er konnte dem all­
gemeinen Schicksal alles Irdischen nicht entgehen; auch er hat seine Lücken, seine Schwächen und seine Einseitigkeiten. Im Eifer der Reaktion gegen den utopischen Sozialismus war er, statt die Lösung des Problems des Zukunftsstaats hinauszu­schieben, und die bedingte, ungefähre Bedeutung der vor­läufigen Lösung anderer Probleme zu erklären, durch die Kraft der geistigen Inertia mitgerissen und hat all diese Probleme ab­gelehnt, bis zur Verneinung der Berechtigung ihrer Aufstellung. Die Furcht vor der Utopie ist hier oft zu einer Furcht vor dem Ideal überhaupt geworden. Er hat sich mehr als nötig des absoluten Objektivismus seiner Weltanschauung gerühmt. Die
materialistische Seite an ihm wurde utriert und brachte ihn
einem philosophischen Zynismus nahe. Statt willkürlich-praktischer Projizierungen in die Zukunft, versuchte er in die objek­tivsten Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft unverhältnis­mäßig viel von einem elementaren Drang zu einer besseren Zu­kunft zu legen, wodurch diese Weltanschauung unwillkürlich einen Anflug von optimistischem Fatalismus erhielt. Erst in dem furchtbaren „Stahlbad" des Weltkrieges und der nachkriegszeitlichen Katastrophen verschwand vieles von den „Utopien des Objektivismus", worauf Kautsky mit der Weisheit alter Er­fahrung, aber jungen Geistes die bereits oben zitierte Bilanz dieser ganzen Epoche der Erfahrungen gezogen hat.

* *
*

Heute sind wir nicht mehr so optimistisch in der Bewertung
der konstruktiven Eigenschaften des Kapitalismus, in der Bewer­tung desjenigen „Vollendeten", das er seinem historischen Totengräber und Erben hinterläßt. Im Lichte der Kriegsereig­nisse haben wir den richtigen Umfang seiner destruktiven Ten­denzen zu schätzen gelernt, die mit besonderer Stärke in den Zeiten der Krisis zutage traten, die jedoch potentiell bereits viel früher existierten, und die im geheimen die bessere Zukunft der Menschheit unterwühlten. Es ist uns jetzt klar geworden, daß der Uebergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Ord­
nung von großer selbständiger, konstruktiv-organisatorischer
Tätigkeit der arbeitenden Massen begleitet sein muß. Wir sind uns gleichzeitig klar darüber, daß durchaus nicht in allen Pro­duktionszweigen (und somit infolge des Gesetzes der inter­nationalen Arbeitsteilung auch nicht in allen Ländern) der Kapi­talismus die gleiche „konstruktive" historische Mission voll­bringt. Im Gegenteil, das gegenseitige Verhältnis des kapitalisti­schen „Konstruktivismus" und „Destruktivismus" ist eine veränderliche Größe, und das Uebergewicht des zweiten über den ersten ist in einigen Fällen ebenso real wie das Gegenteil in anderen. Wir haben die für alle Produktionszweige und für alle Länder gleichmäßig gültige Schablone der Entwicklung un­ wiederbringlich verloren. Wir geben ebenso die Möglichkeit einer Enwicklung des kleinen Grundbesitzes auf dem Wege der organischen Vergesellschaftung von unten her durch Bildung von Genossenschaften, wie für die höheren Industriezweige den
Weg von der wirtschaftlichen Selbstherrschaft des Kapitalisten über die „Fabrikverfassung" zur vollen Industriedemokratie, zur Arbeitsrepublik zu. Das Bild des Uebergangs zum Sozialismus hat sich für uns außerordentlich kompliziert.

Dieser neue Schritt vorwärts, wie auch der Schritt vom
utopischen zum wissenschaftlichen Sozialismus, sind uns nicht umsonst geworden und sind auch nicht ohne Zerstörungen vor sich gegangen. Die ersten Versuche eines Konstruktivismus — sei es der elementare Drang des revolutionären Syndikalismus vom Sozialismus der parlamentarischen Reden zu einem „Sozia­lismus der Arbeiterinstitutionen", sei es der prakische Aufbau
neuer wirtschaftlicher Formen in der genossenschaftlichen Be­
wegung, sei es die Neuheit des „juristischen Sozialismus", sei es das Suchen eines direkten Weges nach dem sozialistischen Elysium im Gebiete der Agrarfragen unter Umgehung des kapi­talistischen Fegefeuers — erschienen uns oft als Ketzereien. Und diese Bewegung selbst mit ihren Fehltritten, ihren Einseitig­keiten und Uebertreibungen gaben reiches Material zur Kritik und verführten so stark dazu, in die ruhigen Gewässer des ehe­maligen Dogmatismus zurückzukehren.

An der Wende zweier Geistesepochen ist es häufig notwen­
dig, am Kreuzweg halt zu machen. An der Wende zweier
Epochen gerät man oft zwischen die Szylla des Dogmatismus
und die Charybdis eines prinzipienlosen Experimentierens, das entweder in einem revolutionären Aventurismus oder in spieß­bürgerlichem Opportunismus versandet.

An der Wende zweier Epochen hat die Geschichte Karl
Kautsky den verantwortlichen Posten eines anerkannten Theoretikers des Sozialismus, eines Bewahrers seiner praktischen und wissenschaftlichen Errungenschaften anvertraut. In dieser un­ vergleichlich schwierigen Situation — sempre sul la breschia — ist es schwer, den Beschuldigungen des Doktrinarismus, der Un­duldsamkeit, des Dogmatismus, der Verschließung vor neuen Ideen zu entgehen.

Unsere Theorien und Systeme, die geistvollsten und tiefsten,
sind nur verschiedene Grade von der Annäherung an jene
lebendige, vom Gedanken nie zu erschöpfende Unendlichkeit,
die den Namen „reale Wirklichkeit" trägt.

Man kann noch folgendes sagen: wenn Kautsky sich nicht
immer auf dieser schwer zu ziehenden Grenzlinie halten konnte (und wer könnte dies bei voller Klarheit des Geistes und in Rein­heit seines intellektuellen Gewissens von sich behaupten?), wenn der allgemeine Geist der Epoche ihn eher dazu drängte, diese Linie zu übersehen und sie nicht sorgfältig aufzusuchen, so kann er doch im großen ganzen, wenn er einen retrospektiven Blick auf sein Lebenswerk wirft, das befriedigende Bewußtsein haben, daß er sich öfter irgendwelchen tatsächlichen Entstellungen des
Sozialismus widersetzt, als neue Wege für ihn gesucht hat, daß er viel öfter die Reinheit der sozialistischen Fahne, als die Un­antastbarkeit des geltenden Dogmas gewahrt hat, und daß an der Wende zweier Epochen er mehr als einmal schwankte, be­vor er diese Grenze überschritt, daß er aber dort nicht nur keinen Drahtverhau angebracht, sondern mit einer großen Geste der neuen Generation der Kämpfer für den Sozialismus die hinter dieser Grenzlinie liegenden weiten Perspektiven und Hori­zonte gewiesen hat.

Kautsky gehört gänzlich der zweiten Phase des Sozialismus
an, die wir als die wissenschaftlich-objektive bezeichnet haben. Diese Phase hat ihre schwachen wie ihre starken Seiten. Kautsky ist eine Verkörperung ihrer starken Seiten. Kautsky versteht, mit Lebensweisheit gewappnet, ihre Schwächen zu mindern. Das ist sehr viel. Solch einen Lebensweg darf man jedem von uns wünschen. Vor Zeiten hat der Sozialismus sich durch Propheten, Hellseher und Dichter an die Menschheit gewandt; später hat er zu seinen Verkündern mit Brillen, Mikroskopen und Skalpellen bewaffnete exakte Forscher und mitunter pedanti­sche, jedoch unendlich nutzbringende und verdienstvolle Schul­lehrer erwählt; heute beruft er eine neue Ablösung, soziale
Architekten und Ingenieure, die in sich die Methodik und Diszi­pliniertheit des Denkens mit dem Schwung des schaffend-kombinierenden Genies vereinigen. Das bedeutet, daß wir vom
utopi­schen Sozialismus über den theoretischen und
dogmatischen zum wissenschaftlich-konstruktiven schreiten. In der Person Karl Kautskys ebnet dieses zweite Stadium, diese zweite große Epoche des Sozialismus der dritten den Weg und begleitet die in sie eintretenden Generationen mit ihrem Segen.

___________

source: Die Gesellschaft: Internationale Revue für Sozialismus und Politik, 1924. Ein Sonderheft der Gesellschaft zu Karl Kautskys 70. Geburtstag.

INHALTSVERZEICHNIS

Die Soziologie im Marxismus Sette
Universitätsprofessor Dr. Max Adler 9

Kautsky als Philosoph
Universitätsprofessor Dr. Karl Vorländer 19

Die Zukunft des deutschen Landwirtschaftsbetriebs
Dr. Adolf Braun 25

Theorien der Revolution
Rechtsanwalt Louis B. Boudin 37

An der Wende zweier Epochen
Victor Tschernow 48

Kautsky in Oesterreich
Dr. Adolf Braun 58

Kautsky's erstes Wirken in der deutschen Sozialdemokratie
Eduard Bernstein 66

Bekanntschaft mit Kautsky
Friedrich Stampfer 83

Die Gründung der „Neuen Zeit" und die Intellektuellen
Paul Kampffmeyer 86

Kautsky und die junge Generation
Dr. J. Marschak 92

Die deutsche Sozialdemokratie in der Tschechoslowakei und Karl Kautsky
Prof. Johann Polach 100

Der Sozialismus in Südosteuropa und Karl Kautsky
Jakob Pistiner 107

Die Bedeutung der Lebensarbeit Karl Kautsky's für die Entwicklung des Sozialismus in Bulgarien
Janko Sakasoff 110

Kautsky und die finnländische Sozialdemokratie
J. W. Keto 114

Meister, Kampfgenoffe und Freund
Dr. Theodor Dan 117

Karl Kautsky in Rußland
B. Nikolajewsky 122

Karl Kautsky in Georgien
Noe Jordania 131

Karl Kautsky und die Gewerkschaften
Richard Seidel 137

Karl-Kautsky-Blbllographie
Bibliothekar des Instituts der Sozialforschung an der Universität Frankfurt a.M 149

  • 1THE creation of a socialistic organization is therefore not so simple a process as we used to think, when the problem had not approached so near to us. What kind of organization this will be and how it will be introduced is the question which is now engaging the attention of the theorists, and also the far-seeing politicians of Socialism... Now is the most propitious time for the leading minds of Socialism to apply themselves to this subject with all their strength. The most important work will devolve upon those who possess eminent gifts of organization, or rather those who combine with such gifts great theoretical powers and knowledge. http://marxists.org/archive/kautsky/1924/labour/ch03_e.htm#s1

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