Zur Revision des Parteiprogramms - Max Zetterbaum

Kautsky what is to be done Lenin
Maksymilian Zetterbaum

10, 11 October (Nos. 278, 279) 1901 Arbeiter-Zeitung (Vienna). Critical remarks on revision of the programme of the social-democratic party in Austria. A passage from this is quoted in a Kautsky article that Lenin references in 'What is to be done'.

Submitted by Noa Rodman on January 26, 2017

Maksymilian Zetterbaum (Cederbaum), 1871 Kołomyja - 1927 Meran. 'A Galician Jew raised in poverty, he studied law at the University of Lviv, then returned home to Kolomyia and agitated among local Jews. He organized a strike of talit-weavers in which hasidim took to the barricades and rabbis urged the strikers to persevere. In 1892 Zetterbaum helped found Daszynski's Polish Social Democratic Party (PPSD) [...].' (p. 264, 'Focusing on Galicia', 1999).

He wrote articles in Die Neue Zeit, for example a review of Hilferding's 1904 'Böhm-Bawerk's criticism of Marx'. The Kautsky Papers contain his letters to Kautsky. In 1896 he became editor of the Jüdische Volkszeitung (possibly the Wrocław/Breslau paper, 1894-1933). Possible distant relative of Martov family, but not clear.

A passage from the present article is approvingly quoted in Kautsky's piece 'The Revision of the Austrian Social Democratic Programme' (full English translation in the appendix of 'Lenin and the logic of hegemony', Alan Shandro, 2014 – that Kautsky piece was approvingly quoted by Lenin in 'What is to be done'), criticising the draft proposal for the revision of the programme of the social-democratic party in Austria (the old Hainfeld programme had been written by Kautsky):

Zetterbaum has already justifiably pointed out, in the Vienna Worker Times of 10 October, how misleading is the phrase according to which the proletariat becomes conscious that the spiritual and material conditions for new forms of cooperative production and common property have yet to be created, whereas the old programme viewed them as already created, and of necessity created, at present. I can only repeat what Zetterbaum says:

'All the cooperatives, trade unions and other proletarian institutions, even the most concentrated political efforts of the proletariat in the modern state, can create these and so many important preconditions of socialist society only insofar as capitalism itself produces them daily. This is easy to confirm in reality. Incidentally, all proletarian institutions, such as cooperatives, etc., themselves emerged from the dialectical development of capitalism and emerge from it daily. While many a good comrade may like to act out a role in his vision of the future [ie have in mind the thought about the future], these proletarian institutions are produced and created out of the current needs of the proletariat and not for the sake of the future socialist society. A socialist programme has to take these facts into account and not cast its demands, despite their realistic content, in utopian terms. When we draft a municipal programme, when we demand the nationalisation of the mines, when we found a cooperative, it is less to prepare a new form of cooperative production than for the sake of today’s needs and the already vital developmental interest of the proletariat. It is something else when all these demands and institutions of ours turn simultaneously by themselves into ‘conditions of new forms’ because the developmental interests of the proletariat coincide with the development of the socialist order.'

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(OCR copy errors possible)

Von Dr. Max Zetterbaum.

I. Der Programmentwurf und die Theorie.

In diesen Zeiten, in denen eine geistige Zerfahrenheit und eine impotente Zweifelsucht so manchen in unseren Reihen ergriff, erinnert uns der neue Programmentwurf, daß wir wie zuvor und meiner Ansicht nach, die ich unten kurz erweisen werde, fester denn je auf dem alten Boden des wissenschaftlichen Sozialismus stehen.

Wissenschaftlich ist der Sozialismus des Programmentwurfs vor allem in dem Sinne, daß seine ganze theoretifche Begründung eine im knappen Umriß essentiell formulirte Darlegung der Theorie von Marx und Engels über die Entwicklungsgesetze der modernen gesellschaft enthält, welche Theorie von ihren Begründern — ob mit Recht oder Unrecht, bleibe hier unerörtert — mit denn Namen des 'wissenschaftlichen Sozialismus' bezeichnet wurde. Wissenschaftlich im exaktesten und allgemeinsten Sinne des Wortes ist der Sozialismus des Programmentwurfs auch aus dem Grunde, weil den ganzen Entwurf das Streben nach veinlirher Berücksichtigung der gesellschaftlichen Thatsachen und der sich aus ihnen ergebenden Prinzipien, der Wille zu exakter, strenger Formulirung und zur Aufnahme nur derjenigen Satze, die fich augenfälig siegreich gegenüber allen gegnerischen Behauptungen aufrechterhalten lassen, charakterisirt.

Wie es schon der Verfasser des Entwurfes selber hervorgehoben, weicht der Entwurf hauptsächlich in zwei Punkten von der Hainfelder Prinzipienerklarung ab, und zwar in der Frage der 'wachsenden Verelendung' und in der des angeblichen Automatismus der Bewegung, der die Realisation des Sozialismus als 'die Erfüllung einer geschichtlich nothwendigen Entwicklung' erscheint. War eine klarere Formulirung für den ersten Punkt nothwendig, so haben wahrscheinlich Grunde hauptsächlich taktischer Oekonomie den Verfasser zu einer kleinen Aenderung in der zweiten Frage bestimmt. Denn ein Programm, das die Anhänger einer bestimmten Richtung im politischen Lebeu vereinigen soll, hat lauter Sätze zu enthalten, die sich in die lebendige Wirklichkeit des Kampfes umsetzen lassen. Rein theoretische Sätze, die zu Meinungsverschiedenheiten unter den Genossen fuhren konnten, sind in einem Programm überflüssig.

Doch betrachten wir das Verhaltniß der an die Stelle der früheren Sätze gestellten Abanderungen zur Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus, zum sogenannten Marxismus.

1. Trotzdem sich Genosse Adler mit Recht auf das kommunistische Manifest berufen kann, halten, wie der deutsche Parteitag in Lübeck gezeigt hat, die 'Revisionisten' an der Auffassung fest, es hätten die 'Orthodoxen', die 'Marxisten', bis nun die Verelendungstheorie in dem Sinne vertreten, den ihnen diese unterschieben, und es sei erst der revisionistifehen Aufklärerarbeit gelungen, die anderen von ihrem 'Dogma' abzubringen. Nun ist es augenfällig klar, daß gerade eine Verelendungsthrorie in diesem revisionistischen Sinne schnurstracks dem obersten Grundsatz der marxistischen Entwicklungslehre widersprechen würde, wonach die Klasse, der der gesellschaftliche Sieg zufallen soll und die die fortschreitenden Produktivkräfte sowie die elemente der neuen Gesellschaft vertritt, nothwendigerweise in diesem ihrem geschichtliche Entwicklungsgange immer kraftiger und okonomisch stärker werden muss, wenn sie siegen soll. Gerade also der Gegensatz zur Verelendungstheorie ist 'marxistisch'. Und daß die 'Epigonen' Marxens stets so dachten, beweisen anm unwiderleg-lichsten die Ausfürungen des am meisten mit Unrecht angegriffenen Kautsky, der vor zehn Jahren in der Begründung seines Entwurfes zum Erfurter programm in No. 50, 9, Band 2, der Neuen Zeit schlagender und kräftiger, als es je ein Revisionist gethan, wenn auch nicht im schönfärberischen Sinne für die heutige Gesellschaft, die Verelendungstheorie als unrichtig und als dem wissenschaftlichen Sozialismus zuwider zurürckgewiesen hat und ein ökonomische kräftiges Proletariat als eine Vorbedingung einer kräftigen Sozialdemokratie bezeichnet.

Was wir unter 'wachsender Verelendung' verstehen, ist hauptliichlich das in Folge der tägliche Zersetzung der alten Betriebsformen durch den Kapitalisnius taglich neu geschäffene Elend, nicht aber eine 'Verelendung" des vom kapitalistischen Produktionsprozeß selbst organisirten Proletariats.

An Stelle des früheren zweideutigen, verschwommenen, wenn auch volksthümlichen Ausdruckes der 'wachsenden Verelendung' in der Hainfelder Prinzipienerklärung finden wir im neuen Entwurf die streng marrisch gedachte Fassung von dem Gegensatze 'der Lebenshaltung, immer breiterer Schichten des arbeitenden Volkes zu der rasch steigenden Produktivkraft ihrer eigenen Arbeit und zu dem Anschwellen des von ihnen selbst geschaffenen Reichthums'. Dieser Satz erscheint als eine Exposition des Begriffes vom relativen Mehrwerth, eine Folge des nothwendigen Wachsthums des konstanten Kapitalstheiles gegenüber dem variablen u.s.w.

Durch die revisionistische Diskussion aufmerksam gemacht, hätten wir somit jetzt in dieser Frage eine exaktere Fassung im Sinne der ökonomischen Theorie Marx' als früher.

2. Sind betreffs der Verelendungstheorie trotz verschiedener Behauptungen alle wesentlich derselben Ansicht, so scheint die Frage der Nothwendigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung zum Sozialismus heute strittig. Die Gegner der Auffassung von der nothwendigen Entwicklung meinen, es sei nicht wahr, daß der Sozialismus ein nothwendiges Entwicklungsprodukt der kapitalistischen Wirthschäftsordnung sei, er entspringe bloß dem Gehirn der Gerecht- und Billigdenkenden aus vernünftiger Einsicht, es sei nicht wahr, daß der Kapitalismus selber nothwendigerweise die materiellen und geistigen Elemente der neuen Gesellschast schaffe, und insbesondere sei es nicht wahr, daß der Kapitalismus vermoge der Entwicklung der in ihin wirkenden gegensätzlichen Kräfte die sozialistische Gesellschaft hinsteuere, diese gewissermassen aus sich erzeuge.

Prüft man den Entwurf vom Standpunkt dieser in allgemeinster Form gegen die Marxschen Geschichtsentwicklung vorgebrachte Einwürfe, so gelangt man zur Ueberzeugung, dass er in dieser Frage eine diplomatische Mittelstellung einzunehmen versucht. Im Sinne des strengsten Marxismus deduzirt der Entwurf das Entwicklungsgesetz der kapitalischen Geselleschaftsordnung, konstatirt ferner, dass das Proletariat gezwungen sei, den Kampf gegen den Kapitalismus zu führen, beruft sich mit Engels auf den fundamentalen Gegensatz zwischen gesellschaftlicher Produktion und individueller Aneigungsweise, und das daraus in den Köpfen der Proletarier nothwendigerweise das Sozialistische Weltbild sich forme und der Kampf des Proletariats für eine Sozialistische Gesellschaft sich ergaebe. Diesen ganzen Prozess bis zum Kampf für den Sozialismus bezeichnet der Entwurf als ein 'nothwendige Entwicklung', dessen Träger – wieder streng marxistisch – nur das Proletariat sein könne. Bis hieher haben wir daher im neuen Entwurf anstatt der allgemeinen Ausdrücke der Hainfelder Prinzipienerklärung eine kurze, exakte Darstellung Marxscher Geschichtsentwicklung: der Sozialismus als Ideal, als gesellscaftliche Strömung erscheint hier als ein nothwendiges Produkt der kapitalistischen Entwicklung.

Auf die Frage jedoch, ob schon gegenwärtig die kapitalistische Gesellschaft die Elemente der neuen sozialistischen Ordnung schafft und ob auch die Realisation der letzteren uns als nothwendig aus der Entwicklung des Kapitalismus entspringend erscheinen muß, gibt der Entwurf keine Antwort. Hingegen verwandelt er den Inhalt dieser Probleme in Aufgaben des proletarischen Willens und Zwecksbewußtseins.

Prinzipiell läßt sich vom Standpunkte des wissenschaftlichen Sozialismus gegen diese Fassung 1 nichts einwenden. In der Erkenntniß nämlich der geschichtlichen Nothwendigkeit der sozialistischen Gesellschaft liegt auch die Erkenntniß eingeschlossen, daß das Proletariat die Erreichung dieses Zieles nothwendigerweise anstreben muß, daß das von der geschichtlichen Entwicklung in der Brust des Proletariats eingepflanzte und dort laut erschallende 'Du sollst' das geschichtlich nothwendige, bedeutsamste Glied in der geschichtlichen Vergliederung ist, als deren Ergebniß sich die gesellschaftliche Zuknufsordnung darstellt. Diese imperative Faffung konnte um so zulässiger erscheinen, als es sich hiebei nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung, sondern um die theoretische Formulirung eines Kampfprogramms handelt, dessen letztes Ziel nach unserer Theorie als ein im zähesten Klassenkampf zu eroberndes uns erschien. Und jede Kampfeslosung ist stets imperativ. Der Entwurf könnte diese imperative Fassung schon darum wählen, weil jeder Kundige an den bekannten Satz Marxens: 'Jede Zeit Stellt sich diese Aufgaben, die sie lösen kann', denken wird, mit anderen Worten, weil die Verwirklichung der Sozialistischen Ordnung implicite als nothwendig erscheinen muss, wenn das Kampfesziel nothwendig ist.

Wenn ich also der imperative Fassung des dass Zukunftsziel betreffenden Satzes, 'und dass der Uebergang der Arbeitsmittel in den gemeinschaftliche Besitz der Gesammtheit ... dass Ziel des Kampfes ... sein muß', einverstanden bin, so kann ich jedoch die ebenfalls imperative Fassung des vorhergehenden Saßes betreffend die erst zu schaffenden 'nothwendigen geistigen und materiellen Vorbedingungen für neue gemeinsamen Besitzes' nicht in demselben Maße entsprechend finden. Der Satz soll offenbar besagen, daß das Proletariat Massregeln und Einrichtungen des Ueberganges in die Sozialistischen Ordnung zu erstreben und in der Richtung seine politischen und sonstige Forderungen vertreten soll, also zum Beispiel Forderungen nach Erweiterung des Kommunalbesitzes — Munizipalisirung der Verkehrsmittel u.s.w. – Verstaatlichung der Bergwerke, eigener Ausbau des Gensossenschaftswesens, Selbstverwaltung in allen Arbeiterinstiiutionen u. s. w. Kein Zweifel, jeder kann sich mit dem Satze als solchem auf dem ersten Blick einverstanden erklaren. Sieht man aber, daß dieser Satz in der Hainfelder Prinzipienerklarung ohne das Wörtchen 'müssen' gestanden hat und dort eine andere Bedeutung hatte, daß der Sinn jenes Hainfelder Satzes jedoch in dem — neuen programmentwurf fehlt, so muß man hiebei sich fur einen kurzen Augenblick aufhalten. Der Satz, das schon gegenwärtig die geistige und materiellen Vorbedingungen der sozialistischen Ordnung geschaffen werden, ist neben dem Satze vom Klassenkampfe des Proletariats der wichstigste in der Marxschen Entwicklungstheorie der modernen Gesellschaft. Ohne die Thatsache, die dieser Satz ausdrückt, wäre jedes kämpfen, jedes Streben für den Sozialismus eine Utopie, zerrinnender Sand. Nur indem wir mit den durch diese Erkenntniß geschärften Augen in die Wirkltchkeit sehen, erkennen wir die wahrscheinliche Zukunft und auch die Wahrheit unserer gesammten Theorie, würdigen wir, würdigt das Proletariat die günstige oder ungünstige Bedeutung der Wirkung so mancher Maßregel, Reform oder institution ob diese nach vorwärts oder nach rückwärts führen; Dieser Satz ist in unserem programm entschieden nicht überflüssig. Hingegen steckt der Sinn des im Entwurf enthaltenen Satzes schon im leßten Satze, der von dem 'Ziel des Kampfes' spricht. Denn dieser 'Kampf' ist nicht im Sinne eines eintätigen Straßenkampses zu verstehen, sondern als der geschichtliche Klassenkampf des Proletariats, der auch nicht mit Schwertern gekämpft wird, sondern im täglichen Erorbern und Schaffen von Machtpositionen allerart fur das Proletariat, Positionen, deren stetes Wachsthum das Proletariat nicht nur dem Ziele nahert, sondern das Ziel selber 'theilweise' schafst. Aber nur 'theilweise'. Denn all die Genossenschaften, Gewerkschaften und sonstigen proletarischen Institutionen, sogar all die konsequente Politik des Protetariats im Gegenwartstaat kann nur insofern diese und so viele wichtige Vorbedingungen für die sozialistische Gesellschaft schaffen, als sie der Kapitalismus — sowohl sein Produktionsprozeß als alle seine sonstigen Funktionen — selber taglich schafft. Das ist leicht in der Wirklichkeit zu kontroliren. Und übrigens sind alle proletarischen Institutionem, wie Genossenschaften u. s. w. selber aus der dialektischen Entwicklung des Kapitalismus hervorgegangen und gehen aus ihm täglich hervor, und wiewohl bei manchem guten Genossen auch der Gedanke an die Zukunft mitspielen mag, so werden diese proletarisen Institutionen doch erzeugt und geschaffen aus dem gegenwärtigen Bedürfniß des Proletariats heraus und nicht für die Zwecke der künftigen der sozialistischen Gesellschaft. Diesen Sachverhalt hat ein sozialistisches Programm zu berücksichtigen und nicht Forderungen in utopistischer Formulirung, wenn auch realen Inhalts, aufzustellen. Denn ich betrachte es, wenn auch als einen leichten Grad von Utopisterei, zu meinen das Proletariat schaffe und solle schaffen in der Gegenwart Institutionen für eine zukünftige sozialistische Gesellschaft oder in Rücksicht auf diese. Wenn wir ein Kommunalprogramm entwerfen, wenn wer Verstaatlichung von Bergwerken fordern, wenn wir Genossenschaften grunden, so thun wir es weniger, um neue Formen genossenschaftlicher Produktion vorzubereiten, als aus dem Bedürfniß der Gegenwart und dem schon lebendigen Entwicklungsinteresse des Proletariats. Etwas anderes ist es, wenn alle diese unsere Forderungen und Institutionen zugleich zu 'Vorbedingungen neuer Formen' von selbst werden, weil das Entwicklungsinteresse des Proletariatis mit der Entwicklung zur sozialistischen Ordnung zusammenfallt. Wo aber, wie zum Beispiel oft bei Verstaatlichungen, zum Beispiel beim Versuch der Schaffung des Tabakmonopols in Deutschland oder bei speziellen Arten von Betrieben, diese 'Vorbedingung sur neue Formen' und das Entwicklungsinteresse des Proletariats ausnahmsweise einander widersprechen, dort entscheiden wir uns für das lebendige Entwicklungsinteresse. Mit einem Wort, durch Aufnahme des beanstandeten Satzes sprechen wir etwas aus, was in dem in diesem Satze enthaltenen Sinne nicht vollständig der Wirklichkeit entsprechen kann, insofern es aber der Wirklichkeit entspricht, von selbst durch die Existenz, die Ziele und die Arbeit der Sozialdemokratie gegeben ist. Eine Unterlassung in der Richtung ist daher ohne Belang. Dagegen fehlt in dem Entwurfe der Satz, der unserer ganzen Arbeit und unserem Kampfe zum Ziele hier erst festen Boden verleiht und ünsere Arbeit in unserm eigenen Augen rechtfertigt. Der Satz nämlich, der in der Hainfelder Prinzipienerklärung steht; daß schon gegenwärtig von der Gesellschaftsordnung aus die geistigen und materiellen Vorbedingungen der späteren sozialistischen Gesellschaft geschaffen werden. Dieser Satz ist wahr und überaus wichtig.

Ich würde also folgende Formulirung des zweiten Gesammt-satzes des dritten Abschnittes vorschlagen:

'Es (das Proletariat) kommt zum Bewußtsein, daß schon gegenwärtig für neue Formen genossenschaftlicher Produktion und gemeinsamen Besitzes die nothwendigen geistigen und materiellen Formen geschaffen werden, daß die Verdrängung der Einzelrodultion auch den Einzelbesitz immer mehr überflüssig und schädlich mache und daß daher nur der Uebergang der Arbeitsmittel in den gemeinschaftlichen Besitz der Gesammtheit das Ziel des Kamper für die Befreiung der Arbeiterklasse sein muß.'

Der vorangehende Ausdruck, 'es kommt zum Bewußtsein' ist sogar ein nothwendiges Mittelglied, um auszudrücken, das diese Bedingungen für die neue Gesellschaft nicht nur objektiv vorhanden sind, sondern daß das Proletariat diese Thatsache erkennt, in Folge dessen auch die geschichtliche Nothwendigkeit der sozialistichen Gesellschaft und daher ferner auch den stets wachsenden 'Anachronismus' des Einzelbesitzes nach Verdrängung der Einzelproduktion, und daß es bei dem Stande der Dinge naturgemäß das einzig mögliche Ziel des Kampfes, die planmäßige Vergesellschaftung der Produktion, sich setzt.

Ich habe den Ausdruck 'nur' hinzugefügt, um anzudeuten, daß andere Lösungen, wie zum Beispiel die von verschiedenen sozialen Aposteln und den Anarchisten vorgeschlagenen privat genossenschaftlichen Besitz formen in unserem programm keinen Platz haben können, muß aber hiebei auch den im Entwurf glucklich gewählten Ausdruck 'neue Formen genossenschaftlicher Produktion' hervorheben, weil er geeignet ist, das öde Gerede, wir seien auf die Form einer 'Verstaatlichung' der Produktion eingeschworen, zu widerlegen.

(Continuation, 11 October:)

Im großen und ganzen behandelt der Entwurf der 'nothwendigen geschichttischen Entwicklung' sehr gesschickt.

Weil aber diese Frage bei uns in Folge des neuen Entwurfes aktuell ist und über sie bei Freund und Feind oft Mißverstandniß herrscht erlaube ich mir, ohne natürlich an dieser Stelle in das Wesen dieser streng wissenschaftlichen Frage tiefer eingehen zu können, ihr einige Bemerkungen zu widmen.

Was bedeutet 'nothwendig'? Nothwendig ist nach der richtigen Definition des großen Anti-Hegel Arthur Schopenhauer, dem unsere kleineren daher glauben sollten: was bei gegebenen Bedingungen aus zureichendem Grunde folgt.2 Absolute Nothwendigkeit existirt nicht; ändern sich die bedingungen, so ändern sich auch die Wirkungen (eventuell die Folgen). Anhänger der Ansicht von der geschichtlichen Nothwendigkeit des Sozialismus zu fein, bedeutet daher nichts anderes, als aus der Untersuchung der bisherigen Gesellschaftsentwicklung und der immanenten Entwicklung der gegenwärtigen Gesellschaftsbedingungen die Ansicht gewonnen zu haben, daß nach zureichendem Grunde die sozialistische Ordnung eintreten werde — bedeutet im Grunde also nichts anderes, als eine bestimmte Folgerung aufzdustellen. Doch warum wegen einer eventuell irrigen Folgerung, die fich außerdem auf die Zukunft bezieht, ein solches Geschrei unserer revisionssüchtigen Genossen?

Sie fürchten, das Proletariat könnte sich dem Klassenkainpf und dem Kampfe für den Sozialismus entziehen, wenn es erfahren, das Eintreten der sozialistischen Ordnung sei schon wissenschaftlich als nothwendig entschieden, denn in deni Falle wäre ja jedes Kampfen, jedes Sich-einer-Gefahr-aussetzen rein überflüssig.

Vor der Antwort darauf eine Bemerkung. Kein vernünftiger Marxist war je der Ansicht, die Zukunftsordnung werde aus der bloßen Oekonomie des Kapitalisnins obne Mitwirkung aller übrigen gesellschaftlichen— hauptsächlich daher auch der geistigen — Zwischenglieder hervorgehen. Das widerspräche dem Monismus der Marxschen Theorie, die die Gesellschaft als eine trotz ihrer mannigfaltigen Gliederung und Differenzirung einheitliche Organisation auffaßt, so daß die Veränderungen in einem Theile korrelate Veränderungen in anderen Theilen hervorrufen müssen.

Wenn ich nun erkläre, die Anschauung von der geschichtlichen Nothwendzgleit des Sozialismus sei eine Folgerung, geschlossen aus Prämissen, zu deren wichtigsten, ja als die wichtigste, die vom Klassenkampfe des Proletariats für daß sozialistische Ideal gehört, und daß, wenn diese wichtige Prämisse wegfällt, auch ie Folgerung wegfallen müßte — erscheint dann der weiteste und schärfste Klassenkampf, die eifrigste Theilnahme Jedes Proletariers am Kampfe für das Eintreten der sozialistischen organisation nicht geboten und nothwendig?

Werden aber die Menschen zu einem bestimmten Kampfe, das heißt zu einem bestimmten Thun gezwungen, dann ist keine Furcht, daß eine bloße Erkenntniß betreffend eine bestimmte ferne Zukunft sie von einem Kampf, den ihnen die Gegenwart aufzwingt, den ibnen ihr eigenes Interesse ausdrängt, abhalten könnte.

Schon seit den Zeiten des seligen Baruch Spuioza, der es Zuerst erkannt hatte, ist es ein Axiom der Psychologie, daß eine bestimmte Erkenntniß sogar wenn sie einer Leidenschaft zuwiderliefe, diese Leidenschaft, diesen Affekt nicht aufheben kann. Warum soll die Erkenntnis einer nothwendigen zukünftigen Ordnung den Proletarier abhalten, sich jetzt zu empören, wenn die Verhaltnisse in ihm die Empörung nothwendigerweise entfachen, warum soll sie ihn abhalten, für die in seinem Interesse gelegene Maßregel einzütreten, wenn diese Maßregel jetzt für ihn nothwendig ist. Warum soll im die Erkenntniß, daß der Sozialismus nicht das zufällige Erzeugniß seines Gehirns, sondern in den Fundamenten der gesichtlichen Entwicklung fest verankert sei, abhalten, für sein Ideal, für das nothwendige Produkt seines Fühlens und Denkens, für seine Selbstbejahung einzutreten? Vielleicht darum, weil er der Ansicht wäre, daß das, was in ihm als Ideal lebt und flammt, die Ausicht oder die Gewißheit der Realisation für sich habe? Gerade dieses Moment, diese Gewißheit vom endgiltigen Siege der Ideale treibt die Menschen in den Kampf, läßt sie leicht Opfer bringen, für die sie den Preis in dem antizipirten Siegesgerühl, in dieser tiefsten Bejahung ihres Selbst erhalten. Hingegen wird schwerlich jemand das höchste Risiko für seine Ansicht, sein Ideal tragen wollen, wenn es ihm selber als bloß zufällig, nicht sicher realisirbar erscheint, denn er fürchtet, sein Opfer wäre nutzlos. Das ist nicht nur logisches Raisonnement, das entspringt anus der lebendigen Psychologie der Menschen und der Massen. Und es ist ein tiefer Zusammenhang, daß man uns, die angeblichen 'Fatalisten', zugleich als 'Revolutionäre' schilt, die stets zum unbedingtesten Kampfe, zum vollen Eintreten entschlossen sind, während sie, die 'Ethiker', die angeblich alles auf die innere 'freie' Selbstbestimmung setzen wollen; jedem ernsten Kampfe soweit als moglich ausweichen möchten, am liebsten 'Reformer' heißen wollen u.s.w., ein Zusammenhang, dessen Aufdeckung viel Raum einnehmen müßte. Die Theorie von der geschichtlichen Nothwendigkeit des Sozialisnins birgt daher in sich nicht die mindeste Gefahr, daß ihre Anhänger sich je dem Kampfe, den sie für nothwendig halten und dessen erste Streiter zu sein sie sich berufen fühlen, einziehen werden. Oder wird meine innere Selbtsbestimmung aufgehoben, wenn ich erkenne, daß mein Ideal ein nothwendiges Ergebniß geschichtlichter Entwicklung sei? Es ist schlechterdings nicht einzusehen, warum.

Oder fliehen die Revisionisten das 'Fatum'? Ich habe gezeigt, um was für ein Fatum es sich hier handelt. Meiner Ansicht nach fliehen allerdings die Revisionisten das 'Fatum', die Nothwendigkeit — aus der bisherigen Geschichtsentwicklung logisch nach zureichendem Grunde zu folgern.

II. Sonstige Bemerkungen zum Programmentwurf.

Der Entwurf ist in einein Punkte seinem ganzen Tone nach enger marxistisch als jedes andere mir bekannte Programm. Er erklärt deutlich, es sei die Aufgabe der Sozialdemokratie, den geschichtlichen Kampf der Arbeiterklasse politisch zu führen, er identifizirt fast Proletariat und Sozialdemokratie.

Aber das Proletariat ist nicht die einzige und, was noch mehr ist, nicht die einzige leidende Bevölkerungsklasse. Es ibt Kleinbüger, Kleinbauern, Intelligenzler, die unter der gesellschaftlichen Entwicklung schwer leiden. Sind diese auch zum Proletariat zu rechnen?

Man könnte sie alle höchstens als 'arbeitendes Volk' bezeichnen, nicht aber als Proletariat, wenn wir dem Sprachgebrauch nicht Gewalt anthun wollen. Nach dcni Entwurf will nämlich die Sozialdemokratie jederzeit das Klasseninteresse des Proletariats vertreten; könnte sie auch jederzeit die Klasseninteressen der Kleinbauern, Kleinbürger u. s. w. vertreten? Ich bezweifle das.

Und doch darf die Sozialdemokratie an den leidenden Schichten der Bevölkerung nicht gleichgiltig vorübergehen, sie muß um sie werben, wenn sie mehr Macht gewinnen will, und sie wirbt auch thatsächlich um sie, in Wahlzeiten sogar sehr stark. Wie bedenkt der Entwurf alle diese Bevölkerungschichten? Fast gar nicht oder hinlänglich — jeder wird es anders meinen, weil im Entwurfe darüber gar nichts deutlich gesagt wird. Der allgemeine Theil der Minimalforderungen bringt allen diesen Bevölkerungschichten bedeutende Vortheile, mehr als jede andere Partei sie ihnen geben kann. Aber auch außer diesen Forderungen können wir, soweit es sich nicht um Verewigung veralteter Betriebsformen handelt, und soweit es mit den Interessen der allgemeinen höheren Gesellschaftsentwicklung vereinbar ist, diesen anderen nicht-proletarischen Volkschichten viel bieten. Unsere Forderungen an die Kommune und an das Land bezwecken in vielen Fällen die Wohlfahrt aller, wir können sogar ein Agrarprogramm für die Kleinbauern entwerfen, wir wollen ihnen außerdem mehr Bildung und auch ein Ideal geben, das sie geistig erhebt und sie im Lebenskampf jeder Art stüßt. Jedoch thut der Programmentwurf der übrigen Bevölkerungschichten außer dem Proletariat, der das allgeineine Programm, unser Bekenntniß, bilden solle, keine Erwähnung. Der erste Satz des Entwurfes ist mehr eine allgemeine Erklärung unserer allgemeinen Prinzipien, und der Ausdruck 'das gesammte Volk' hat dort einen wenig konkreten Sinn. Hierauf spricht der Entrwurf ausschließlich vom Proletariat, für das allein er die Sozialdemokratie wirksam machen will. Wenn wir jedoch so viele andere Vortheile der übrigen nicht reinproletarischen Bevolkerung bieten können, tun wir uns selber unrecht, wenn wir ihrer im Programm nicht erwähnen. Der nicht ganz 'sattelfeste' Genosse kann in Wahlzeiten in Verlegenheit kommen, wenn ein Demagog unter Verweisung auf das Programm ihm vorhält, die Sozialdemokratie denke nicht an die anderen Bevölkerungsschichten, wolle nichts für sie thun, und nur in Wahlzeiten kämen diese sozialdemokratischen heuchler zum Volk. Ohne daher in den insbesondere kleinbügerlichen Schichten etwa Illusionen über die Erhaltung ihrer Klasse wecken zu wollen, sollten wir dem Parteiprogramm einen Passus einfügen, der das ausspricht, was ist und sein kann, was schon im allgemeinen Theil der Minimalforderungen, was in unserem Agrarprogramm in dem zu schaffenden Gemeindeprogramm, Wohnungsprogramm, überhaupt daher in allen diesen Theilprogrammen, die jedoch mit dem Parteiprogramm stets organisch verbunden sein müssen — enthalten ist oder enthalten sein wird — nämlich, daß wir für Reformen und Maßregeln eintreten, die allen Bevölkerungsschichten zugute kommen. Durch einen derartigen Passus wären auch unsere verschiedenen Theilprogramme ausdrücklich mit dem Parteiprogramm verbunden.

Ich meine daher, daß man nach dem letzten Absatz des alllgemeinen Theiles unmittelbar vor den Minimalforderungen den folgenden Sätz als besonderen Abschnitt dem Parteiprogramm einfügen soll:

'Da ferner die Interessen des Proletariats mit denen der allgemeinen gesellschaftlichen Höherentwicklung und der allgemeinen Wohlfahrt ideiitisch sind, so tritt die Sozialdemokratie naturgemäß mit aller Energie für Reformen und Maßregeln ein, welche der gesammten Bevölkerung, in erster Reihe allen leidenden Volkssichten zugute kommen'.

Welche Reformen daß sind, ist in den Minimalforderungen und in den Theilprogrammen enthalten. Mehr können wir nicht und brauchen wir nicht zu sagen.

Die Minimalfordergen erscheinen mir alle als unserem Programm gemäß und zweckentsprechend. Doch wurde ich für die Eliminirung der Forderung daß Unternehmer mit Arrest zu bestrafen seien, stimmen. Der Ausdruck 'Arrest' verunstaltet mir das ganze Programm. Man höre: Die revolutionäre Sozialdemokratie fordert in ihrer feierlichsten Prinzipienerklärung im Parteiprogramm 'Arrest' für andere Menschen. Ich sage nicht, daß die Unternehmer den Arrest nicht verdienen, obwohl ich gegen jede Art der Freiheits-beschrankung bin, also auch gegen den speziell österreichischen 'Arrest', dessen auch die österreichsche Sozialdemokratie für ihre Zwecke nicht entrathen will. Aber ich meine, die Sache könnte man irgendwo anders hinstellen als ins Parteiprogramm, in welchen viel wichtigere Dinge als dieser 'Arrest' nicht stehen, zum Beispiel in einen Gesetzentwurf im Parlament bei Aenderung der Gewerbenovelle. Uebrigens, der Tag, an dem die Sozialdemokratie sich ein neues Progrgimii anschafft, ist ein Feiertag. An solchen Tagen der Fahnenweihe wollen wir großmüthig sein und schenken den Unternehmern den Arrest — im Programm. Stilistisch waren die untersten zwei Säße über die Kontrole der Durchführung der Arbeiterzschutzgesetzgebung und die Arbeiterversicherung als Punkt 7 und 8 den Minimal-Arbeiterschutzforderungen anzugliedern, also zum Beispiel: 'Mitwirkung der von den Arbeiterorganisationen gewählten Inspektoren und Inspektorinnen bei der Kontrole der Durchführung des Arbeiterschußes'.

Damit will ich meine Bemerkungen schließen.

  • 1Die betreffenden Sätze des Entwurfes lauten:

    'Je mehr aber die Entwicklung des Kapitalismus das Proletariat auschwellen macht, desto mehr wird es gezwungen und befähigt, der Kampf gegen ihn aufzunehmen. Es kommt zum Bewußsein, das die Verdrängung der Einzelproduktion auch den Einzelbesiß immer mehr überflüssig und schädlich macht, daß zugleich für neue Formen genossenschaftlicher Produktion und gemeinsamen Besitzes die nothwendigen geistigen und materiellen Vorbedingungen geschaffen werden mussen, und dass der Uebergagng der Arbeitsmittel in den gemeinschaftlichen Besiß der Gessammtheit des Volkes dass Ziel des Kampfes für die Befreiung der Arbeiterklasse sein muss. Der Träger dieser nothwendigen Entwicklung kann nur das zum Klassenbewußsein erwachte und zum organisirte Proletariat selbst sein.'

  • 2Ich kann unseren 'neukantischen' Revisionisten versichern, das man auch bei Kant diese Auffassung der 'Nothwendigkeit' herausfinden kann. Ich habe aber seine Schriften nicht zur hand. Ich schreibe den Artikel während der Reise.

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